Die Geschichte von der alten Seele

By on 9. Dezember 2018, in Kurzgeschichten

Es war einmal eine sehr, sehr alte Seele, die sehr, sehr viele Menschenleben auf der Erde gelebt hatte und deren Dasein als Seele jetzt ebenfalls fast zu Ende war. Ja, bald würde sie mit der Ewigkeit verschmelzen und ein Teil davon werden.

Im Augenblick sass die alte Seele in der Leere zwischen ihrem letzten Menschenleben und ihrer künftigen Verschmelzung und fühlte sich ein wenig einsam. Ihre Freunde waren auf und davon, die alte Seele konnte sie unten auf der Erde sehen, wie jede von ihnen einen Menschen mit Eifer, Neugier und Staunen und den verschiedenen Gedanken erfüllte.

„Ich will dorthin“, sagte die alte Seele. „Ich habe immer noch eine ordentliche Portion Freude übrig. Ich will dorthin und sie ihnen schenken.“ „Aber die Zeit, die dir vor der Verschmelzung bleibt, ist so kurz“, warnte der Wächter. „Natürlich kannst du ihnen Freude schenken, aber wenn du nur so kurze Zeit bei ihnen bleibst, schenkst du ihnen zugleich eine grosse Trauer, wenn du sie verlässt.“ „Ich weiss“, sagte die alte Seele, „aber ich will es trotzdem. Ich will ihnen so viel Freude schenken, dass sie ihnen danach über die Trauer hinweghilft.“ „Dann soll es so sein, wie du es willst“, sagte der Wächter und schickte die sehr, sehr alte Seele los.

Daraufhin bekamen ein Mann und eine Frau auf der Erde ein Kind, das sie sich schon lange gewünscht hatten. Es war ein allerliebstes Kind, das ihnen vom Tag seiner Geburt an Freude bereitete, jene ungetrübte Freude, die die Menschen empfinden, wenn ihre Seelen einander begegnen und sie sich aus der Ewigkeit wiedererkennen.

„Aber bleibt dir nicht nur sehr wenig Zeit?“, flüsterte die Seele der Mutter der alten Seele in dem kleinen Jungen zu. „Die Zeit ist kurz, aber die Freude ist gross“, antwortete die sehr alte Seele. Und obwohl die Mutter dieses Gespräch nicht hörte, weckte das Geflüster eine ahnungsvolle Unruhe in ihr, einen Hauch des Wissens, dass wir nichts auf Erden besitzen, einer den anderen nicht und nicht einmal uns selbst. Alles wird uns schliesslich genommen werden, alles, was wir mit uns tragen, alle Lieben um uns herum, schliesslich auch unser Leben und unser Körper. Aber der Junge wuchs heran, und die Freude, die er verbreitete, war so gross, dass die Mutter diese Gedanken vergass. Und der Vater freute sich ebenfalls. Ja, die sehr alte Seele durfte ihre letzte Zeit genauso verbringen, wie sie es sich gewünscht hatte.

Aber die Zeit war kurz, auch nach menschlichem Mass war sie kurz, und der Augenblick kam, da die Verschmelzung stattfinden würde. Die sehr, sehr alte Seele erhielt den Ruf, dass sie sich unverzüglich zur Zeremonie einfinden sollte, und musste gehorchen.

Für die Menschen sah es so aus, als hätte ein plötzlicher Tod den Jungen ereilt. Ihre Trauer war masslos, genau wie der Wächter es vorausgesagt hatte. Aber da alle Erinnerungen an ihr Kind Freude und nichts als Freude waren, konnten sie ihre Trauer ertragen, genau wie die sehr alte Seele es vorhergesagt hatte.

Und wo man früher die sehr alten Seelen ihr letztes Häppchen Zeit einfach in der Leere hatte absitzen lassen, bürgerte sich von nun an die Sitte ein, dass die alten Seelen zu Menschen, die sie brauchten, geschickt wurden, um ihnen ihre letzte grosse Freude zu schenken.

 

(Quelle: «Du fehlst mir, du fehlst mir»)

 

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